Virale Relikte im Genom verbunden mit Neurodegeneration: Mögliche Wege für therapeutischen Eingriff

Neurodegenerative Erkrankungen, eine Gruppe von beeinträchtigenden Zuständen, die Millionen Menschen weltweit betreffen, wurden seit langem mit viralen Infektionen in Verbindung gebracht. Eine jedoch kürzlich erfolgte bahnbrechende Studie von Forschern des Deutschen Zentrums für Neurodegenerative Erkrankungen (DZNE) hat einen neuartigen Mechanismus aufgedeckt, der “endogene Retroviren” im menschlichen Genom betrifft. Diese genetischen Überreste alter Viren, die zuvor als inaktiv galten, könnten eine entscheidende Rolle bei der Entwicklung und Fortschreitung neurodegenerativer Störungen spielen. Die Ergebnisse, die in der angesehenen Zeitschrift Nature Communications veröffentlicht wurden, unterstreichen die mögliche therapeutische Bedeutung dieser “viralen Relikte” als Ansatzpunkte für innovative Behandlungen.

Die Hypothese, dass virale Infektionen zum Beginn neurodegenerativer Krankheiten beitragen, wird bereits seit einiger Zeit erforscht. Die Wissenschaftler des DZNE haben nun einen faszinierenden neuen Aspekt hinzugefügt, indem sie einen Mechanismus enthüllt haben, der ohne die Notwendigkeit externer viraler Krankheitserreger funktioniert. Stattdessen haben sie ihr Augenmerk auf “endogene Retroviren” gerichtet, die seit langem im menschlichen Genom vorhanden sind. Im Laufe der Zeit haben sich verschiedene Gene von verschiedenen Viren im menschlichen DNA angesammelt, und die meisten dieser Gensequenzen bleiben aufgrund von Mutationen inaktiv. Es sind jedoch Beweise aufgetaucht, die darauf hinweisen, dass unter bestimmten Bedingungen diese endogenen Retroviren aktiviert werden können und möglicherweise zur Entwicklung von Erkrankungen wie Krebs und neurodegenerativen Erkrankungen beitragen könnten.

Dr. Ina Vorberg, Leiterin der Forschungsgruppe am DZNE und Professorin an der Universität Bonn, erklärte:

Während der Evolution haben sich Gene von zahlreichen Viren in unserer DNA angesammelt. Die meisten dieser Gensequenzen sind mutiert und normalerweise inaktiv. Es gibt jedoch Hinweise darauf, dass endogene Retroviren unter bestimmten Bedingungen aktiviert werden und möglicherweise zur Entstehung von Krebs und neurodegenerativen Erkrankungen beitragen können. Tatsächlich werden Proteine oder andere genetische Produkte, die von solchen Retroviren abgeleitet sind, im Blut oder Gewebe von Patienten gefunden.”

Die Forschungsreise, die Dr. Vorberg und ihre Kollegen unternommen haben, führte sie zu Experimenten mit Zellkulturen. Sie versuchten, die Bedingungen nachzuahmen, unter denen menschliche Zellen spezifische Proteine aus der Hülle endogener Retroviren produzieren. Insbesondere untersuchten sie zwei spezifische Retroviren, HERV-W und HERV K, die normalerweise im menschlichen Genom inaktiv sind. Interessanterweise deuten Studien darauf hin, dass HERV-W bei Multipler Sklerose aktiv wird, während die Aktivierung von HERV-K mit neurologischen Störungen wie Amyotropher Lateralsklerose (ALS) und frontotemporaler Demenz (FTD) in Verbindung gebracht wird. Die Forscher entdeckten, dass virale Proteine den Transport von “Tau-Aggregaten” erleichtern, kleinen Proteinansammlungen, die sich im Gehirn von Menschen ansammeln, die von neurodegenerativen Erkrankungen wie Alzheimer und FTD betroffen sind. Dieser Durchbruch legt eine mögliche Verbindung zwischen endogenen Retroviren und der Verbreitung von Tau-Aggregaten zwischen Zellen im Gehirn nahe.

Die Studie betont, dass endogene Retroviren möglicherweise zwar nicht den Beginn der Neurodegeneration auslösen, jedoch erheblich zur Fortschreitung der Krankheit beitragen könnten, sobald sie begonnen hat. Die Forscher schlagen vor, dass virale Proteine als Vermittler für den Transport von Tau-Aggregaten dienen. Diese Proteine setzen sich in Zellmembranen und in die Membranen extrazellulärer Vesikel ein, kleinen lipidhaltigen Bläschen, die von Zellen natürlich ausgeschieden werden. Dieser Prozess scheint die leichtere Verbreitung von Tau-Aggregaten zwischen Zellen zu fördern.

Mit zunehmendem Alter kann die Genregulation sich verändern und diese ursprünglich inaktiven endogenen Retroviren reaktivieren. Es ist wichtig zu beachten, dass die meisten Symptome von neurodegenerativen Erkrankungen im fortgeschrittenen Alter auftreten, was potenzielle Ziele für therapeutische Eingriffe bieten könnte. Dr. Vorberg hebt zwei denkbare Ansätze hervor: “Einerseits könnte man versuchen, die Genexpression gezielt zu unterdrücken, das heißt, die endogenen Retroviren erneut zu inaktivieren. Das würde das Problem an der Wurzel angehen. Andererseits könnte man auch anders vorgehen und versuchen, die viralen Proteine zu neutralisieren, beispielsweise mit Antikörpern.”

Die Forscher hoffen, dass Personen mit Demenz und Tau-Aggregaten möglicherweise erhöhte Mengen von Antikörpern gegen diese viralen Proteine aufweisen könnten. Das Isolieren und Reproduzieren dieser Antikörper mithilfe biotechnologischer Methoden könnte den Weg für einen passiven Impfstoff ebnen. Das Team von Dr. Vorberg arbeitet in Zusammenarbeit mit Kollegen des DZNE aktiv daran, solche Antikörper bei Patienten zu identifizieren, um mögliche therapeutische Ansätze zu finden. Darüber hinaus haben sich antivirale Medikamente in Experimenten mit Zellkulturen als vielversprechend erwiesen, da sie die Ausbreitung von Proteinansammlungen stoppen können, was auf einen weiteren Forschungsansatz hinweist.

Diese wegweisende Forschung beleuchtet das komplexe Zusammenspiel zwischen alten viralen Überresten in unserem Genom und der Entwicklung von neurodegenerativen Erkrankungen. Indem sie diese verborgenen Mechanism weiter aufdecken, rücken die Forscher der Entdeckung innovativer Behandlungsansätze näher, die möglicherweise dazu beitragen könnten, die Belastung dieser verheerenden Zustände zu mildern.

Während die wissenschaftliche Reise zur tieferen Erkenntnis dieser Prozesse fortschreitet, wächst die Hoffnung auf effektive Therapien für neurodegenerative Erkrankungen stetig. Die Einblicke, die diese Forschung liefert, könnten dazu beitragen, präzisere Diagnosemethoden zu entwickeln und gezielte Therapien zu entwerfen, die auf die zugrunde liegenden Mechanismen abzielen. Ein besseres Verständnis der Rolle, die endogene Retroviren in der Neurodegeneration spielen könnten, eröffnet neue Wege für die Medizin, um den Patienten zu helfen und die Lebensqualität der Betroffenen zu verbessern.

Diese neu gewonnenen Erkenntnisse markieren einen wichtigen Schritt in Richtung einer umfassenderen Behandlung von neurodegenerativen Erkrankungen. Während es noch viele Fragen gibt, die beantwortet werden müssen, können wir aufgrund dieser Forschung optimistisch in die Zukunft blicken. Die enge Zusammenarbeit zwischen Forschern, Ärzten und Patienten bildet das Fundament für Fortschritte in der Behandlung und Prävention von Krankheiten, die Millionen von Menschen auf der ganzen Welt betreffen.

Insgesamt zeigt diese wegweisende Forschung, wie tief verwurzelt und komplex die Verbindungen zwischen viralen Relikten in unserem Genom und neurodegenerativen Erkrankungen sind. Durch das Enthüllen dieser verborgenen Mechanismen haben Forscher die Tür zu neuen Möglichkeiten geöffnet, die in Zukunft zu bahnbrechenden Fortschritten in der medizinischen Forschung und Patientenversorgung führen könnten.